Die DDR in Moabit

Nicht nur in der DDR, sondern auch in West-Berlin gab es eine SED, die soge­nannte Sozia­lis­ti­sche Einheits­partei Deutsch­lands. In der DDR war sie 1946 durch die Verei­ni­gung von KPD und SPD entstanden, wobei das für die Sozi­al­de­mo­kraten nicht ganz so frei­willig war. Wer aber dagegen protes­tierte, fand sich schnell im ehema­ligen Konzen­tra­ti­ons­lager in Sach­sen­hausen wieder, das nun von den Sowjets betrieben wurde. Zwar gab es die SED auch im Westen der Stadt, hier musste aber aufgrund alli­ierter Vorbe­halte eine Abstim­mung der Mitglieder über die Verei­ni­gung statt­finden. Mit dem Ergebnis, dass sich 82 Prozent der SPD-Mitglieder dagegen ausspra­chen.

Die SED in West-Berlin war also in Wirk­lich­keit keine Einheits­partei, sondern nur ein anderer Name für die KPD. Nach dem Mauerbau 1961 nannte sich die SED in den West­be­zirken erst „SED West­berlin“, von 1969 an SEW, also Sozia­lis­ti­sche Einheits­partei West­berlin.

Einer ihrer Schwer­punkte war Moabit. Hier gab es große Indus­trie­be­triebe, in denen die Partei Gewerk­schafts­ar­beit machte. Außerdem stand im Moabiter Teil der Kaiserin-Augusta-Allee das „Druck­haus Norden“. Diese Druckerei gehörte dem soge­nannten „Zeitungs­dienst Berlin“ und war eine 100%ige Tochter der Orvag. Diese wiederum war Eigentum der Abtei­lung Finanz­ver­wal­tung und Partei­be­triebe der SED, also faktisch ein DDR-Betrieb.

Ursprüng­lich hieß die Druckerei Hent­schel, Heid­rich & Co. Sie produ­zierte nicht nur Broschüren, Werbe­flyer, Bücher und Kata­loge, sondern ab 1959 auch eine Tages­zei­tung: Nach der sowje­ti­schen Partei­zei­tung „Prawda“ nannte diese sich „Die Wahr­heit“ und war doch nichts anderes, als ein Propa­gan­da­blatt der SEW.

Mit dem Mauerbau 1961 spitzte sich die Situa­tion für die „Wahr­heit“ zu. Die West-Berliner Polizei besetzte die Druckerei, die Zeitung musste zunächst illegal gedruckt werden. Um das Erscheinen der „Wahr­heit“ zu sichern, kaufte die Orvag 1964 schließ­lich das Grund­stück. Zwar wollte der Senat den Kauf noch verhin­dern, kam aber zu spät.

Natür­lich hätte sich die Partei mit zwischen 3.000 und 8.000 Mitglie­dern niemals eine eigene Tages­zei­tung leisten können. Die Heraus­gabe der „Wahr­heit“ war nur durch massive finan­zi­elle Unter­stüt­zung der Brüder und Schwes­tern jenseits der Mauer möglich. Zwischen 12 und 15 Millionen DM erhielt die SEW jähr­lich aus der DDR, mehr als die Hälfte davon soll auf die Produk­tion der Zeitung entfallen sein.

„Die Wahr­heit“ war keine Tages­zei­tung im klas­si­schen Sinn. In Zeiten des Kalten Kriegs galt sie als kommu­nis­ti­sches Propa­gan­da­mittel. Inhalt­lich war sie zu 100 Prozent auf Linie der SED-Politik, so wie ja auch die SEW poli­tisch weiterhin ein Wurm­fort­satz der DDR-Regie­rungs­partei war. Kritik an Maßnahmen der DDR oder gar der Sowjet­union suchte man vergeb­lich. Und als „Die Wahr­heit“ in ihrer Ausgabe vom 18. Juni 1977 die Wahl des Gene­ral­se­kre­tärs des ZK der KPdSU, Leonid Breschnew, zum Staats­ober­haupt der UdSSR nur auf Seite 2 meldete, wurde der Chef­re­dak­teur zum Rapport nach Ost-Berlin beor­dert.

Natür­lich gab es in dieser Zeitung auch keine Berichte über oppo­si­tio­nelle Initia­tiven in der DDR und nach dem Super-GAU im Atom­kraft­werk Tscher­nobyl 1986 durften zu dem Thema keine Leser­briefe veröf­fent­licht werden.

SEW und „Die Wahr­heit“ verstanden sich als Teil des Klas­sen­kampfs. Dies änderte sich aber, als sich in der DDR die Bürge­rInnen selbst­ständig machten und die Mauer öffneten. Inner­halb weniger Tage war klar, dass es künftig kein Geld mehr aus Ost-Berlin geben würde, weder für die SEW, noch das Druck­haus Norden. „Die Wahr­heit“ wurde noch im November 1989 einge­stellt und durch eine schnell konzi­pierte „Neue Zeitung“ ersetzt – von der aber nur fünf Ausgaben erschienen. Inner­halb des Druck­hauses machten im Januar 1990 Gerüchte die Runde, dass die Firma geschlossen werden solle, was sich dann auch bestä­tigte. Die 180 Arbei­te­rInnen sollten mit jeweils 7.000 Mark Abfin­dung abge­speist werden. In einer eilig einbe­ru­fenen Betriebs­ver­samm­lung beschlossen die Ange­stellten und Arbeiter, die Druckerei in eigener Regie weiter­zu­führen. Die Partei solle das Unter­nehmen an die Beleg­schaft verkaufen: „Wir fordern die Eigen­tümer auf, dem Betriebsrat ein Über­nah­me­an­gebot zu unter­breiten.“ Die geplante Abfin­dungs­summe von 1,3 Millionen DM könnte dabei als Eigen­ka­pital der Beleg­schaft in den Kauf­preis einfließen. Doch die SED dachte gar nicht daran, ihre Firma in west­liche Hände zu legen. Nicht mal, wenn diese Hände der Arbei­ter­klasse gehören. Hohe Partei­funk­tio­näre ließen die Ange­stellten wissen, das Druck­haus Norden hätte Geschichte geschrieben und dabei solle man es bewenden lassen. Am Ende wurde die Druckerei geschlossen und alle landeten auf der Straße.

Histo­ri­sches Schwarz-weiß-Foto: Andreas Szagun

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