Eine Autobahn durch den Kiez

Im Sommer 1978 wurde bekannt, dass der Bau der Auto­bahn „West­tan­gente“ einen Teil des Stadt­teils zerstören würde. Zwar wusste man schon seit fünf Jahren, dass diese Auto­bahn gebaut werden sollte, nicht aber, wieviel Wohn­häuser und Grün­flä­chen dafür zerstört werden müssten. Die Planung der West­tan­gente war Ausdruck eines Auto­wahns, an dem der sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Senat schon seit Jahren litt. Der moto­ri­sierte Indi­vi­du­al­ver­kehr war anschei­nend Ausdruck eines merk­wür­digen Frei­heits­be­griffs. Auf alten Fotos sieht man, was der reali­sierte Teil der Auto­bahn­pla­nung zerstört hat. Zwischen Steglitz und Schö­ne­berg, in Tempelhof, Wilmers­dorf und Char­lot­ten­burg wurden ganze Stra­ßen­züge platt­ge­macht, und das bei einem perma­nenten Wohn­raum­mangel im dama­ligen West-Berlin.

Quer durch den Schö­ne­berger Kiez, über das Gleis­dreieck und Pots­damer Platz sollte die Auto­bahn nach Moabit und weiter in den Wedding geführt werden. Erst regte sich in Schö­ne­berg Wider­stand gegen diesen Plan. Als dann aber der konkrete Verlauf im Norden bekannt wurde, begannen auch hier die Proteste. Die Inva­li­den­straße und der östliche Teil Alt-Moabits wären zu Auto­bahn­zu­brin­gern ausge­baut worden. Am dama­ligen Lehrter S‑Bahnhof war das „Auto­bahn­kreuz Moabit“ vorge­sehen, direkt dort, wo sich heute der Washing­ton­platz am Haupt­bahnhof befindet. Rich­tung Norden hin sollte sich die West­tan­gente durch das Wohn­viertel in der Lehrter Straße fressen und dann in den Wedding abzweigen. Hier wurden bei Neuver­mie­tungen schon nur noch Verträge geschlossen, die bis 1981 befristet waren. Die Lehrter Straße wäre dadurch völlig verschwunden.

Rich­tung Süden sollte das Kreuz zur Paul­straße führen, dort wäre die Auto­bahn in einem Tunnel unter dem Tier­garten hindurch­ge­führt worden. Eine weitere Strecke war nach Kreuz­berg geplant, eine andere nach Mitte – obwohl damals dort noch die Mauer stand.

„Die Moabiter freuen sich über die Auto­bahn“, behaup­tete Bause­nator Harry Ristock. In Wirk­lich­keit aber wuchs der Protest. Im Früh­sommer 1978 klagten die ersten Moabi­te­rInnen sowie die Bürger­initia­tive vor dem Ober­ver­wal­tungs­ge­richt gegen diese Pläne. In allen betrof­fenen Stadt­teilen wurden Büros zur Koor­di­nie­rung des Wider­stands einge­richtet, es entstand auch eine Tier­gar­tener Anti-Auto­bahn-Gruppe. Der Kampf gegen die West­tan­gente ist auf viel­fäl­tige Art geführt worden, mit Stra­ßen­ak­tionen, vor Gericht, mit Protesten bei Poli­ti­kern, mit Podi­ums­dis­kus­sionen. Die Einbin­dung der Betrof­fenen, also der Menschen in Moabit und den anderen Stadt­teilen hatte zur Folge, dass in der breiten Öffent­lich­keit bekannt wurde, dass die Auto­bahn eben nicht nur Freunde hatte. Mit der Grün­dung der neuen Partei „Alter­na­tive Liste“ gab es dann auch einen wich­tigen poli­ti­schen Verbün­deten, der bald weitere Möglich­keiten des Wider­stands eröff­nete. Und der Protest war erfolg­reich: 1981 wurden die Planungen redu­ziert. Die Strecke zwischen Wedding und Schö­ne­berg wurden gestri­chen. Und damit blieb den Moabi­tern eine Auto­bahn durch ihren Kiez erspart.

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