Das verschwundene Gymnasium

In der östli­chen Turm­straße, kurz vor dem riesigen Komplex des Krimi­nal­ge­richts, schaut am Rande eines dicht bewach­senen Grund­stücks ein freund­li­cher Kopf hervor. Die sichtbar in die Jahre gekom­mene Büste zeigt Wilhelm Schwartz, geschaffen wurde sie 1902 von Fried­rich Johann Pfann­schmidt. Schwartz war von 1882 bis 1894 Rektor des König­li­chen Luisen-Gymna­siums. Das befand sich einst an dieser Stelle, Turm­straße 87 Ecke Wils­na­cker Straße. Im Bewusst­sein der Moabi­te­rInnen ist diese Schule schon lange nicht mehr vorhanden. Dabei hatte sie einst eine große Bedeu­tung und brachte mehrere bekannte Persön­lich­keiten hervor.

Das drei­stö­ckige Gebäude, 1882 eröffnet, wurde entworfen vom Archi­tekten Fried­rich Schulze. Es stand lang­ge­zogen und etwas zurück­ge­setzt parallel zur Wils­na­cker Straße, davor lag der Schulhof. Nur die Rück­wand des extra stehenden Toilet­ten­ge­bäudes ist heute noch erhalten, dahinter befindet sich der Kriegs­grä­ber­friedhof. Seit den 1930ern gehörte dessen Gelände eben­falls zum Gymna­sium und diente als Sport­platz und Schul­garten. Doch als man gegen Ende des Zweiten Welt­kriegs nicht mehr wusste, wohin mit all den Bomben­op­fern, wurden sie dort begraben.

Das Luisen-Gymna­sium war ausge­legt für 900 Schü­le­rInnen, die in 19 Klassen unter­richtet wurden. Es gab zwei Biblio­theken sowie spezi­elle Räume für den Physik­un­ter­richt. Beson­dere Bedeu­tung hat die Schule für die Geschichte der Frau­en­bil­dung, weil sie 1896 eines der ersten Gymna­sien in Preußen war, an dem junge Frauen das Abitur erwarben. Die Frau­en­recht­lerin und Reichs­tags­ab­ge­ord­nete Gertrud Bäumer berich­tete 1906 von ihrer Schule: “Es ist das erste Mal in Deutsch­land, dass Frauen, die in einer eigens für sie errich­teten Anstalt vorbe­reitet waren, die Reife­prü­fung für die Univer­sität ablegten”.

Zum Gymna­sium gehörte auch die Vorschule auf der anderen Seite der Wils­na­cker Straße. Dieses Gebäude steht heute noch und diente damals zur Vorbe­rei­tung der Schü­le­rInnen, die auf das Luisen-Gymna­sium kommen sollten. In den 1950er Jahren wurde es zu einem Jugend-Frei­zeit­heim. Heute gehört es zum Justiz­kom­plex. Das ehema­lige Gymna­sium dagegen exis­tiert nicht mehr. Aus unbe­kannten Gründen brannte es kurz nach dem Zweiten Welt­krieg ab. Heute befindet sich dort ein Spiel­platz und die anfangs erwähnte Büste.

Histo­risch: Plan und Zeitungs­aus­schnitte

Im Laufe der rund 60 Jahre seines Bestehens brachte das Luisen-Gymna­sium mehr als ein Dutzend bekannter Persön­lich­keiten hervor, darunter auch den Nobel­preis­träger Ernst Boris Chain, den ersten Kripo-Profiler und Gründer der ersten Mord­kom­mis­sion der Welt (Ernst Gennat), den Welt­re­kord­flieger Alfred Henke, die Schrift­stel­lerin Marga­rete Kurl­baum-Siebert sowie verschie­dene Hoch­schul­lehrer und ‑rektoren, Künstler, Juristen und Medi­ziner. Der Diri­gent und Adolf Wohlauer wurde 1943 in Ausch­witz ermordet.

Unter den Lehrern gab es mehrere, die aktiv gegen den Natio­nal­so­zia­lismus Wider­stand geleistet haben. Bekannt sind vor allem Elisa­beth Schmitz von der Beken­nenden Kirche sowie die Geschichts-Studi­en­rätin Elisa­beth Abegg, nach der heute nahe des Haupt­bahn­hofs sogar eine Straße benannt ist. Wie auch die sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Rektorin mussten beide das Luisen-Gymna­sium aus poli­ti­schen Gründen verlassen, über­lebten aber den Faschismus.

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