Drei Moabiter Jungs, drei Schicksale

Drei Jungen, die nichts mitein­ander verbindet, die sich nicht kannten und die doch viel zu jung Schreck­li­ches erlebt haben. Der eine nicht ganz unschuldig, die beiden anderen ohne dass sie eine Wahl gehabt hätten. Drei junge Schick­sale aus Moabit.

Herbert Norkus

Wer weiß heute schon, wieso sich ein unschein­barer Schüler von 15 Jahren entschieden hat, bei der Hitler-Jugend mitzu­laufen. Sogar noch, bevor die Nazis an der Macht waren. War er verblendet, weil sein Vater ihm tolle Geschichten aus der SA erzählte? Oder wurde er von ihm gezwungen? Oder suchte er Halt, weil sich seine Mutter zuvor das Leben genommen hatte? In diesem Alter ist vieles möglich, auch dass er die NS-Ideo­logie grund­sätz­lich gut fand, ganz ohne Zutun von außen. Die wirk­li­chen Gründe kennt man heute nicht, nur die, die von den Nazis propa­giert wurden.

Am Morgen des 24. Januar 1932 verteilte Herbert Norkus zusammen mit anderen Hitler­jungen am Otto­platz Flug­blätter in Haus­brief­kästen. Vermut­lich kamen sie gerade aus der Bremer Str. 70, wo der „Bann 201“ seinen Stütz­punkt hatte.

Andere junge Männer, Anti­fa­schisten, stießen mit ihnen zusammen. Es gab eine Schlä­gerei, Norkus erhielt Stich­wunden und wurde im Flur des Hauses Zwing­li­straße 4 gefunden. Auf dem kurzen Weg ins Kran­ken­haus Moabit starb er.

Damit könnte die Geschichte an ihrem Ende sein, aber sie begann nun erst richtig. Schon am nächsten Tag erschien die NSDAP-Zeitung „Der Angriff“ mit der Über­schrift: „Wie der Hitler­junge Herbert Norkus von Rotmord gemeu­chelt wurde“. Bei seiner Beiset­zung in Plöt­zensee folgten 5.000 Menschen dem Sarg. Als die Nazis ein Jahr später an die Macht kamen, nahm die Propa­gan­da­ma­schine erst richtig an Fahrt auf. Norkus wurde als Held gefeiert und zum Mythos gemacht. Überall im Nazi-Staat wurden Schulen und Straßen nach ihm benannt, darunter auch die Otto­straße und der Otto­platz in Moabit. Drei Bücher erzählten seine Geschichte, das berühm­teste, „Hitler­junge Quex“ wurde verfilmt. Herbert Norkus wurde zum Märtyrer aufge­baut, es gab Flag­gen­mär­sche zu seinem Grab, ein Segel­schul­schiff erhielt seinen Namen. Junge HJ’ler schwörten öffent­lich, sich Norkus zum Vorbild zu nehmen. Der Helden­my­thos war gren­zenlos. Und sogar noch im Jahr 2001 erin­nerten sich Neonazis im säch­si­schen Frei­berg an ihn und nannten sich „Kame­rad­schaft Norkus“.

Der wirk­liche Mensch Herbert Norkus aber wird wohl immer unbe­kannt bleiben.

Meine Freundschaft mit Frank

Es waren die 1980er Jahre. Ich lernte Frank zufällig vor seinem Haus in der Beus­sel­straße kennen. Damals war ich 19 Jahre alt, er 16. Wir waren uns sofort sympa­thisch und haben zusammen auf der Gotz­kow­sky­brücke gestanden und dort runter­ge­pin­kelt. Die bösen Blicke der Passanten haben den artigen Jungen aus Moabit und mir punkigem Kreuz­berger Spaß gemacht. Danach sind wir woan­ders ganz runter geklet­tert ans Wasser, haben uns in eine Ecke verdrückt, uns gegen­seitig fest­ge­halten und lange geredet. Obwohl wir uns gerade erst kennen­ge­lernt hatten, hat er sich mir gegen­über total geöffnet. Er erzählte von seiner Familie, der christ­lich-funda­men­ta­lis­ti­schen Mutter, dem gewalt­tä­tigen Vater, von seinen älteren Geschwis­tern, die total spießig waren. Und vom Mobbing seiner Mitschüler im Gymna­sium am Hansa­platz. Einer von denen hatte ihn mal sexuell ange­macht und er war drauf einge­stiegen, weil er sowieso in ihn verliebt war. Doch es war eine Falle, der Mitschüler fand das nur lustig und erzählte seinen Kumpels davon. Seitdem litt er noch mehr unter den Sprü­chen und manchmal auch Schlägen.

Ich weiß noch, wie hilflos Frank war. Ich bot ihm an, mal mit ein paar Freunden aus unserem besetzten Haus zur Schule zu kommen und den Mobbern eins auszu­wi­schen. Aber das wollte er nicht, er wollte über­haupt nur Frieden. Wir trafen uns noch ein paar Mal, meis­tens wenn er aus der Schule kam. Dann machten wir Spazier­gänge, durch den Tier­garten oder an der Spree entlang. Frank sagte mehr­mals, dass ich sein einziger Freund wäre und er nicht wüsste, wie es ohne mich weiter­gehen würde. Irgend­wann küssten wir uns, strei­chelten uns, es war wahn­sinnig viel Zärt­lich­keit in ihm. Als er mich eines Tages besuchte, hatten wir bei mir gemeinsam Sex. Für ihn war es wie eine Erlö­sung. Es war eine Bestä­ti­gung, dass es das ist, was er wollte. Wir schrieben uns kleine Briefe, mit Herz­chen und Küss­chen und so. Es dauerte nicht lange, da traf ich ihn mit einem blauen Auge. Das hatte ihm sein Vater geschlagen, nachdem er einen dieser Briefe gefunden hat.

Ich sagte ihm, dass er auch bei mir einziehen könnte, hier wäre er vor ihm sicher. Aber das wollte er nicht, seine Angst war zu groß. Meine Mitbe­wohner hatten mitbe­kommen und ihm auch gesagt, dass sie ihm helfen würden, er müsste es nur wollen. Aber ich kannte Frank mitt­ler­weile gut genug um zu wissen, dass er das nicht annehmen würde.

Bald danach erhielt ich mit der Post einen sehr trau­rigen Brief von ihm. Er bedankte sich darin für meine Freund­schaft und Liebe. Aber sie war nicht stark genug, ihm das Leben zu retten. Ich bin sofort in die Beus­sel­straße gefahren, wo er gelebt hat. Bei einem Nach­barn habe ich nach Frank gefragt und erfahren, dass er sich tatsäch­lich das Leben genommen hat. Dann klopfte ich an seine Wohnungstür, ich wollte wissen, was die Eltern jetzt denken. Die Mutter öffnete und meinte, dass es wohl besser so sei. Dann kam der Vater und griff mich sofort an. Bei der Schlä­gerei hatte er keine Chance. All meine Verzweif­lung schlug ich in ihn hinein, bis er blutend auf dem Teppich­boden lag.

Dann bin ich gegangen. Ich weiß bis heute nicht, wie Frank gestorben ist und wo er beer­digt wurde. Und auch nicht, ob ich seinen Tod irgendwie hätte verhin­dern können.

Horst Selbiger

Als Horst Selbiger 1928 geboren wurde, war noch nicht klar, dass sein Leben sehr schwer werden würde. Doch schon in den ersten Schul­jahren lernte er, dass er „anders“ war. Die kleinen Pimpfe in ihren schmalen Uniformen übten den Hitler­gruß, während er als „Halb­jude“ ausge­schlossen war aus der „Volks­ge­mein­schaft”. Früh begriff er, dass es keinen Sinn hat, hinter­her­zu­rennen. Er musste sich durch­setzen. Mit acht Jahren ging er zum jüdi­schen Sport­verein Makkabi und lernte boxen, um sich auch gegen die hand­greif­li­chen Mitschüler vertei­digen zu können. „Da gab es dann auch mal was zurück auf die Nase.”

Sein Vater war Jude, seine Mutter nicht, aber sie erzogen ihn säkular jüdisch. Doch seinen Glauben sollte er bald darauf verlieren.

Immer mehr wurde seine Familie entrechtet, der Vater musste seine Zahn­arzt­praxis schließen, ehema­lige Freunde wendeten sich ab. Der kleine Horst wech­selte auf die Jüdi­sche Schule in der Großen Hamburger Straße, doch bald verschwanden dort immer wieder Mitschüler. „Im Oktober 1938 fehlten plötz­lich eine ganze Menge Kinder. Es waren vor allem dieje­nigen, deren Eltern ursprüng­lich mal aus Polen kamen.”

Auch Horst war klar, was ihm bevor­stand: „Wir wussten das, die Kinder waren damals klüger als die Erwach­senen.”

Am 27. Februar 1943 fand die soge­nannte Fabrik­ak­tion statt. Die angeb­lich letzten 8.000 Berliner Jüdinnen und Juden wurden verhaftet, meis­tens in Fabriken, in denen sie zur Zwangs­ar­beit verpflichtet waren. Darunter war auch Horst Selbiger, er wurde aus einem Rüstungs­be­trieb heraus­ge­holt: „Wir wurden mit 1.500 bis 2.000 Juden in die ehema­lige Synagoge Levet­zow­straße einge­lie­fert. Als wir dort von der SS sehr unsanft von den LKWs ausge­laden wurden, standen Frauen auf der Straße und klatschten Beifall. Es war ein abso­luter Zustand der Hilfs- und der Hoff­nungs­lo­sig­keit. Die Menschen schrien sich an, schimpften, flehten, beteten. Kinder weinten voller Jammer. Jeder von uns ahnte oder wusste es bereits: Wir werden in den Tod geschickt.“

Dort traf Horst seine Freundin Esther wieder, für einen Tag. Es sollte die einzige bleiben in seinem ganzen Leben. Auch sie wurde depor­tiert, am 1. März 1943 und starb vermut­lich schon zwei Tage später in Ausch­witz. „Ich stand am Abgrund der Mensch­heits­ge­schichte und das Trauma machte mich stumm. Eine Stumm­heit, die noch Jahr­zehnte in die Zeit nach der Befreiung hinein­rei­chen sollte.“

Horst Selbiger wurde als Kind einer „gemischt­ras­sigen“ Ehe von der Levet­zow­straße in das Sammel­lager Rosen­straße 2–4 in Mitte gebracht. Hier fasste die Gestapo rund 2.000 jüdi­sche Männer und Frauen von nicht­jü­di­schen Ehepart­ne­rInnen zusammen, außerdem deren Kinder. Doch die Nazis hatten nicht mit der Entschlos­sen­heit der Eheleute gerechnet, fast alles Frauen: Schon am Abend der Fabrik­ak­tion standen sie vor dem Gebäude und protes­tierten. In den Tagen danach wuchsen die Proteste laut­stark an, die ganze Zeit lang riefen Hunderte von ihnen: „Lasst unsere Männer frei!“. Es war die größte spon­tane Demons­tra­tion gegen die Nazis während des Faschismus‘.

Die Proteste in der Rosen­straße hörten nicht auf und ab dem 6. März entließ die Gestapo die Gefan­genen wieder. Horst bekam einen Entlas­sungs­schein und wenige Tage später durften auch sein Vater und sein Bruder gehen. Doch der große Rest seiner Familie hatte dieses Glück nicht. 61 seiner Ange­hö­rigen wurden depor­tiert und ermordet. Und auch rund 6.000 der etwa 8.000 bei der Fabrik­ak­tion verhaf­teten Juden wurden gleich nach ihrer Ankunft in Ausch­witz umge­bracht. Horst Selbiger hatte seine geliebte Freundin verloren und war der geplanten Depor­ta­tion und Ermor­dung entkommen. Was sollte dem 17-Jährigen nun noch passieren? Mitt­ler­weile wohnte er mit seinen Eltern im „Juden­haus“ in der Turm­straße 9. Auch dort wurden die Juden immer weniger. In den letzten Monaten der Nazi­herr­schaft lief er nun ohne den gelben David­stern mit der Aufschrift „Jude“ an der Jacke als vermeint­lich „arischer“ Junge durch Berlin. Er hatte sich sogar noch ein Abzei­chen der Hitler­ju­gend besorgt und besuchte jetzt zum ersten Mal im Leben Kinos, Thea­ter­vor­stel­lungen und ging in den Winter­garten – alles Dinge, die den Juden seit über zehn Jahren verboten waren. So erlebte er das Ende der Nazi-Herr­schaft, aber seine großen Verluste ließen ihn 70 Jahre lang nicht mehr über die Erleb­nisse spre­chen. Erst im Jahr 2018 veröf­fent­lichte er seine Erin­ne­rungen und begann, im Alter von 90 Jahren, in Schulen davon zu erzählen. Damit die Jugend­li­chen von heute wissen, wohin Hass und Rassismus führen kann.

Diese Texte sind aus dem Moabit-Buch, das im September erscheint.

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