Geniale Paarungen

Mitten in Berlin steht ein Wein­glas. Oder ist es ein Schlot, der um die Ecke raucht? Der Hohen­zol­lern­kanal, der eigent­lich nur ein 7,7‑Kilometerstück vom Berlin-Span­dauer Schiff­fahrts­kanal ist, und eben dieser Kanal, der hinter dem West­hafen seinen eigent­li­chen Namen, den er seit 1859 hatte, wieder­be­kommt, ergießt sich, nachdem er gerade am Bundes­wirt­schafts­mi­nis­te­rium vorbei­ge­kommen ist, durch die Sand­krug­brücke in den Humboldt­hafen, der auf der nörd­lichsten Stadt­schleife der Spree steht wie ein Wein­glas. Oder ist der Humboldt­hafen zwischen Fried­rich-List- und Alex­an­de­rufer besser als ein nach oben hin breiter Schorn­stein zu lesen, aus dem es im Ostwind nach Westen raucht in einer langen Fahne, an Heide­straße und Fried­rich-Krause-Ufer flat­ternd vorbei? Außer dem Wasser im weiten bild­haften Bogen sieht man auf der Karte vor allem die Bahnen, die Eisen­bahn und Schienen. Ist man – wie ich heute im Schnee – am Bahnhof West­hafen aus der U‑Bahn aus- und auf die Putlitz­brücke hinauf­ge­stiegen, sieht man die Schienen in ihrer unbild­haften Wirk­lich­keit; heute wie gesagt – liegen sie im Schnee, sie führen durch Berlin, nach Osten.
Die Menschen wurden mit Last­wagen von der Großen Hamburger Straße und mit Möbel­wagen von der Levet­zow­straße gebracht. „An der Verla­de­rampe stand meist schon ein Güterzug mit circa dreißig Waggons. Vor dem Einwag­go­nieren trat noch­mals die Gestapo in Groß­ak­tion auf. Man filzte die Menschen derart durch, dass mark­erschüt­temde Schreie wegen der Züch­ti­gungen die ganze Gegend erfüllten.„
Wenn man oben auf der Brücke neben dem Denkmal steht, das Stufen in den grauen Himmel hält, die keine Treppe mehr bilden, hört man die Schreie. Heute hört man sie viel­leicht. Kein Denkmal macht die namhaft, die damals geprü­gelt, geschlagen, gefol­tert und schließ­lich ermordet haben, erst recht die nicht, die die Schreie gehört und vergessen haben. Wir gedenken der Toten, um die Täter zu vergessen. Wir bauen Denk­mäler, um das Böse in die Geschichte zu verweisen.

Ein kleines Stück­chen weiter bin ich bei Rathenau. Die Beleuch­tung Berlins beginnt mit Rathenau. 1887 ist das Jahr des Anfangs, die BEWAG tritt auf, mit Emil Rathenau und Felix Deutsch, drei­zehn Kraft­werke schließ­lich, hier am Fried­rich-Krause-Ufer, das damals noch Südufer hieß, entstand 1899 bis 1900 nach dem Kraft­werk Char­lot­ten­burg das große Kraft­werk Moabit.
Emil Rathenau hatte die Patente, aus Amerika, von Edison; mit Siemens, dem großen Konkur­renten, konnte er sich über die Claims einigen, das gab später viel Streit, aber erst mal klappte es, die Deut­sche Bank finan­zierte Siemens, die Berliner Handels­ge­sell­schaft finan­zierte Rathenau, Carl Fürs­ten­berg, der „schaf­fende und ordnende finan­zi­elle Geist“, schaffte das Geld: „In den Elek­tri­zi­täts­ge­sell­schaften (sagt Werner Sombart) sehen wir tatsäch­lich Produk­tions- und Handels­ka­pital eine wilde und geniale Paarung voll­ziehen“. Denn erst gingen die Geschäfte gar nicht so gut: „Berlin musste sich eben erst daran gewöhnen, elek­tri­sche Energie zu verbrau­chen“; es hat sich gewöhnt. Berlin ohne elek­tri­sches Licht, Berlin elek­trisch beleuchtet – uns scheint kaum, dass das dieselbe Stadt sein kann, viel mehr als hundert Jahre sind seit diesem, dunklen Damals nicht vergangen. Aber was heißt da „dunkel“? Viel mehr als fünfzig Jahre vergingen nicht im hellen elek­tri­schen Licht, da war der bedeu­tende Sohn Rathenaus, Walther, längst ermordet; „Schlagt ihn tot den Rathenau, die gott­ver­dammte Judensau“, und Rathenaus, die Beleuchter Berlins, hätten, wenn sie noch dage­wesen wären, unten gestanden an den Gleisen, von denen die Schreie herauf­drangen, die keiner hörte.

Durch den Dezem­ber­schnee stie­fele ich das Fried­rich-Krause-Ufer ostwärts; auf der gegen­über­lie­genden, auf der Wasser­seite, verweile ich, wo der Uferweg beginnt, der im Sommer auf der einen Seite idyl­lisch und auf der anderen heftig ist, viele kräf­tige Lkws donnern schnee­ver­mat­schend vorüber, aber sonst bin ich alleine; das Kraft­werk surrt mit einem Ton, der so viel kleiner ist als die mäch­tigen Bauten, dass er als vorsichtig und fast als zärt­lich empfunden werden kann. Ich schaue im leichten Schnee ein Weil­chen den Möwen zu und den Enten, die auf dem dunklen Wasser schau­keln. Gegen­über liegt das Weddinger Nord­ufer mit präch­tigen Bürg­erfas­saden, die Renais­sance vorgeben. Dort könnte man in einem Fenster sitzen und herüber­sehen. Der Archi­tekt des ersten Kraft­werk­baus hier war Franz Schwechten. Turm und Hallen­an­fang sind noch da, die hundert­sieb­zehn Meter lange Halle fehlt seit 1987, dafür ragt weiß wie die Wand der Wirk­lich­keit, an der die Träume zerschellen, der Neubau empor, dessen obere Kanten sich mit dem grauen Dezem­ber­himmel verbinden.
Diesen Franz Schwechten könnte man den Ruinen­bau­meister nennen. Von ihm stammen die bedeu­tendsten Ruinen Berlins: der Anhalter Bahnhof, die Gedächt­nis­kirche am Kudamm, das Eingangstor zu Borsig, hinter dem nicht mehr folgt, wozu es das Tor war, die Schult­heiss­brauerei am Prenz­lauer Berg, in der nichts mehr gebraut wird, der Grune­wald­turm, der jeden­falls inner­lich eine Ruine ist, zu schweigen von seinem letzten Bauwerk, mit dem er sich der neuen Zeit zuwen­dete, das Haus Potsdam, später Vater­land, in der König­grätzer, heute Stre­se­mann­straße, das über­haupt nicht mehr da ist; das Grab des Braue­rei­be­sit­zers auf dem Friedhof an der Frie­den­straße ist noch da, es ist immer noch ein Grab, aber seine archi­tek­to­ni­sche Groß­ar­tig­keit steht in keiner Entspre­chung mehr zu dem Mann, der drunter liegt und den keine Archi­tektur aus dem Vergessen holt. Auch das Kraft­werk ist also eine Ruine, ein Stück Gewe­sen­heit, Dekor. Das haben wir gerne: die Geschichte als Schmuck, die Gegen­wart mit „früher“ verziert; hier braucht man nur wenige hundert Meter bis zu der Frage, ein Teil der Geschichte schmückt, der andere wäre fürs Vergessen?

Der Torf­stra­ßen­steg ist eine elegante Fußgän­ger­brücke vom Fried­rich-Krause-Ufer zum Nord­ufer und zur Torf­straße, die ich nachher aufwärts laufen werde, um gegen­über dem Entree-Haus des Virch­ow­kli­ni­kums – von Ludwig Hoff­mann fast zur glei­chen Zeit gebaut wie das Kraft­werk – in den U‑Bahn-Unter­grund zu verschwinden. Hinten die Haupt­ver­wal­tung der Behala, der Hafen­be­triebe, Fried­rich Krause war der Hafener­bauer, ihm zu Ehren musste das Südufer 1924 seinen Namen aufgeben, der damals schon fast ein halbes Jahr­hun­dert alt war. Auf der anderen Seite Thyssen mit seiner Gute-Laune-Bäder-Gegen­wär­tig­keit, daneben Landes­ein­woh­neramt, Auslän­der­be­hörde, deswegen ist „Fried­rich-Krause-Ufer“ eine Adresse, die manche auch fürchten; dann die fast fertige Brücke, die den S‑Bahnbögen, die folgen, ihren wahren Zweck zurück­geben wird.
Der kleine Platz heißt nach Peking, das Grün­flä­chenamt erklärt ihn auf einer Tafel sorg­fältig, sogar in türkisch; die Samo­a­straße heißt nach einem Kolo­nial-Konflikt, der unge­fähr zur selben Zeit die Poli­tiker beschäf­tigte, als das Kraft­werk entstand.
Nichts wissen wir mehr davon. Was vorbei ist, ist vorbei. Nicht immer. Nicht alles. Hier liegen die Dinge dicht neben­ein­ander, sie paaren sich zu Bedeu­tungen, für die man nicht so leicht stei­gernde Adjek­tive findet.

Aus: Spazier­gänge in Berlin (1990er Jahre) von Diether Huhn

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