Die ersten Nazifahnen – so weit ich mich erinnere – hingen in der Bandelstraße raus. Aber Jugend, also richtig so Jugend, haben wir eigentlich nie gesehen. Das waren dann alles eben SA-Leute oder so, aber Jugend? Mit der Hitler-Jugend, das muss nach der Machtergreifung sehr schnell irgendwie da von denen organisiert worden sein. Aber vorher merkte man eigentlich nichts. Obwohl der Bezirk Tiergarten ja durchaus kein sozialistischer Bezirk oder so was war. Er war ja durch seine Bevölkerungsstruktur, dadurch, dass dann das Hansaviertel und so weiter war, war ja da auch ne Menge bürgerlicher Leute, die da wohnten. Beamte und viele Geschäftsleute, darunter sehr viel Juden. Denn umsonst haben sie die große Synagoge damals Ecke Jagowstraße nicht gehabt.
Die Ergebnisse am 31. Januar 1933, das war ganz komisch. Ich weiß noch genau, ich meine, Radio oder so was gab es ja nicht. Meine Schwester, die war an dem Tag in der Oper. Ich weiß nicht, ob mein Bruder auch da war, die kam nach Hause und sagte: „Mensch, also, es war ja furchtbar.“ Da in der Stadt, die haben das noch so halb mitgekriegt, den Fackelzug Unter den Linden. Dadurch hörten wir überhaupt erst was davon.
Also vorher, dass das nun irgendwie … wie sollte man das auch erfahren? Im „Vorwärts“, den wir lasen, stand vorher vom Fackelzug nichts, vielleicht im „Angriff“ oder im „Völkischen Beobachter“, aber die haben wir ja nicht gelesen.
Als Hitler an der Macht war, wurde der Sportverein verboten, die „Arbeiterjugend“ wurde verboten, die ganzen Verbände wurden verboten, alle Gewerkschaftshäuser besetzt, alle Parteihäuser besetzt und so weiter. Mit einem Moment war alles plötzlich vorbei. Da stand man nun da und, und wusste überhaupt nicht, was man machen sollte, so ungefähr. Man hat ja immer gedacht, na ja, es wird irgendwas dagegen unternommen, aber es kam ja nichts. Ich meine, man versuchte zuerst immerhin noch weiterzumachen, wir haben uns getroffen und sind sonntags auf Fahrt gegangen, und es wurden ja irgendwelche, nicht direkt Flugblätter, aber so kleine Broschüren oder so was zusammengestellt, wo alles mögliche so bekannt gegeben wurde. Ja, bis es denn soweit war, bis die ersten verhaftet wurden. Ich meine, ein Teil wurde ja gleich verhaftet.
Ich weiß, dass zum Beispiel von Moabit mehrere in einen Prozess verwickelt waren, die zum Teil zu längeren Haftstrafen verurteilt wurden und nachher während des Krieges in das Strafbataillon 333 gesteckt wurden, als man sie dann als Soldaten wieder brauchte. Ich weiß von einem, der auf Kreta eingesetzt wurde, der nicht wieder gekommen ist und noch ein anderer, wo der war, weiß ich nicht, ist auch nicht wiedergekommen. Das waren jüngere, damals so um die 20 rum, Anfang 20.
Bis zum Krieg haben wir uns eigentlich immer noch ab und zu getroffen. Da war zum Beispiel der frühere „Junge Chor“ in Berlin. Die hatten in der Singakademie immer in jedem Jahr irgendein Chorkonzert. Und das war auch so ein Treffpunkt, da traf sich alles, was so am Rande noch überall so hing, das ging dann dahin. Das wussten die Nazis auch ganz genau, das wurde immer überwacht. Aber sie haben eigentlich nie jemanden rausgeholt.
Wir hatten immer noch eine Verbindung, wir sind immer zur sogenannten Paetzer Heide gefahren, das liegt südlich von Königs Wusterhausen. Und zwar war das mal ursprünglich Freikörperkultursparte der „Freien Turnerschaft Groß-Berlin“, das war auch ein Arbeiterturnverein. Und da war eben eine Gruppe diese Freikörperkultursparte, und die hatten am Paetzer Hintersee ein sogenanntes Gelände, wie man so sagte, zum Hinfahren. Und da waren noch aus den früheren Jahren so alle möglichen Leute. Und da traf man sich dann auch immer noch so. Das ging bis zum Kriegsende so – man kannte ja seine Leute.
Am 1. April 1934 sind wir aus Moabit weg zum Wedding verzogen. Mein Vater und mein Bruder, die fühlten sich nicht mehr sicher. Die dachten, als sie die anderen da abgeholt hatten, da holen sie uns vielleicht auch noch ab. Mein Vater war außerdem im Reichsbanner und war ziemlich groß, und er trug immer die Fahne. Und er fühlte sich eben unsicher, und wir sind dann lieber weggezogen. Bei uns im Hause waren ja auch welche, die bis dahin eigentlich treue Kommunisten waren und plötzlich ne Hakenkreuzfahne raushängten. So was gab es ja auch.
Nachher hatten wir eigentlich zu unseren Leuten da aus dem Haus weiter keine Verbindung. Zu einigen schon noch, aber größtenteils durch meine Mutter. In der Paetzer Heide waren alle möglichen, waren welche aus Moabit, waren welche aus Lichtenberg, waren welche aus dem Prenzlauer Berg, waren eine Menge, und Neukölln, aus allen möglichen Richtungen.
Gott sei Dank hatte ich Arbeit bei einer Firma, die keinerlei Wert darauf legte, als nationalsozialistisch zu gelten. Mein Chef war so ein alter Kaisertreuer, und der hatte mit denen gar nichts im Sinn. Und verlangte von uns auch gar nichts. Und bei uns war es auch nicht üblich, „Heil Hitler“ oder sonst irgendwas zu sagen. Wir haben uns immer so durchgeschlängelt. Bis 1939, und denn habe ich noch anderthalb Jahre bei einer anderen Firma gearbeitet, aber das war ganz ulkig: Der Chef, der hatte da so ein oder zwei Nazis, die er so als Aushängeschild hatte. Und all die anderen? Ich hab da im April 1939 angefangen und ich muss Ihnen ehrlich sagen, so innerhalb ganz kurzer Zeit habe ich rausgekriegt, und die haben das wahrscheinlich auch mit mir rausgekriegt, wem man trauen kann, und wem man nicht trauen kann. Da war der eine junge Kollege, der war früher im „Arbeiterturn- und Sportbund“ und der andere Kollege, der war zum Beispiel hier in Rüdnitz bei der Fleischvernichtungsanstalt, da war er Direktor, der ist entlassen worden, weil er Sozialdemokrat war, arbeitete bei uns als Pauser. Und das kriegte man eigentlich irgendwie raus.
Na ja, dann nach dem Krieg, da hat sich so einiges wieder gefunden, man hat sich dann wieder mal getroffen, die alten Leute. Manchmal haben wir uns getroffen, aber … na ja, so große Interessen, die hat man auch nicht mehr, man erzählt sich dann bloß noch was aus der Jugendzeit.
Hildegard Schönrock: Wir kamen gerade so hin
Alle Kapitel:
01 | 02 | 03 | 04 | 05 | 06 | 07 | 08 | 09 | 10 | 11 | 12 | 13 | 14 | 15 | 16 | 17