Lübeck, Tucholsky, Ulk

Ich habe eigent­lich keine Heimat. Mein erstes Lebens­jahr­zehnt verbrachte ich in Sonne­berg, Thüringen. Nichts über Sonne­berg.
Meine Eltern stammten aus Jena. Dort wurde ich zwischen Krieg und Frieden eine kurze Zeit aufge­hoben. Bis ich nach Lübeck kam. Die acht Jugend­jahre, die ich dort verbrachte, müssen jetzt ausrei­chen, damit ich „Lübeck“ sage, wenn mich jemand fragt, woher ich bin.
Ich bin nicht heimat­lich gesinnt. Wenn es sein muss, klam­mere ich mich an die Hanse­stadt. Wenn ich an einen Ort komme, der nach Lübeck heißt, fühle ich mich an den Südhang des Thüringer Waldes versetzt und empfinde heimat­liche Gefühle.
Hat Tucholsky irgend etwas Heimat­li­ches gefühlt, wenn er in die Lübe­cker Straße kam? Viel­leicht kam er nach Studium und dem erstem Welt­krieg kaum noch hin.
Die Frage ist biogra­phisch. Deshalb weniger inter­es­sant als die Frage: Würde er Heimat­li­ches fühlen, wenn er jetzt hinkäme?
Diese Frage ist poli­tisch. Elemente der Antwort wären:
Hier, in dieser Tier­gar­tener Straße, in einem Haus, das jetzt gerade reno­viert wird und in dem zur Zeit niemand wohnt, ist Kurt Tucholsky – Deutsch­schrift­steller von Jahr­hun­dert­klasse – am 9. Januar 1890 geboren. Damals war sein Vater, der so schön Klavier spielte, wohl noch nicht Bank­di­rektor. Die väter­liche Musik ist verklungen. Hörte er, aufer­standen in die Lübe­cker Straße von heute, jetzt, vor allem das, was man eben nicht mehr vernimmt in Deutsch­land, also Schweigen? Reden, Schreiben, Schweigen: die tuchol­sky­sche Stei­ge­rung.

Ich glaube nicht, dass dem hypo­the­ti­schen Tucholsky die Gegend ganz fremd wäre. Hinten liegt immer noch die Trutz­burg der Justiz und ihr Gefängnis. Seine Mauern sind am Abend jetzt in gelb­li­ches Licht getaucht. Das hebt die Dunkel­heit nicht.
Das Gefängnis muss der Lübe­cker Straße immer schon etwas Steiles gegeben haben. Steil? Wie hoch­ra­gende Häuser, die an Fried­höfe reichen. Dabei reicht die Lübe­cker Straße gar nicht an die Justiz­bauten heran. Man spürt sie nur im Hinter­grund. Oder ist das bloß persön­lich?
Ich bin lange Jahre Richter gewesen. Auch eine Zeit lang im Krimi­nal­ge­richt dort hinten. Aus dem Bera­tungs­zimmer konnten wir die Imitat-Lüster in einer Wohnung in der Turm­straße sehen; wir blickten hinüber und erwar­teten irgend was in dieser zur Schau­bude verengten Wirk­lich­keit. Am liebsten, dass sich zwei geliebt hätten, während wir über Frei­heit und Gefan­gen­schaft berieten.
Die Gegend ist tuchol­sky­isch. Nicht etwa, weil er Jurist war. Das Juris­ti­sche war nicht das Tollste an ihm. Aber er hat immer in Erkennt­nis­nähe zu den Kerlen gelebt, die die Verfol­gungs­ma­schine bedienen. Er glaubte nicht an Gerech­tig­keit. Deutsch­land fing schon in den 20-er Jahren an, ein Unge­rech­tig­keits­land zu werden, ein Unland.

Die Lübe­cker Straße ist eine Berliner Groß­stadt­straße, auch ein Stadt­lehr­pfad: Zweimal rauf und runter, da kriegt man manches mit, wenn man auch nur schwer sagen kann, was. Ein Beispiel ist das Eck-Ensemble Lübe­cker / Perle­berger Straße. Das nord­öst­liche, spitz wie ein Lini­en­schiff auf die Perle­berger zuge­rich­tete Eckhaus: Ein Pracht­stück des 19. Jahr­hun­derts, gegen­über ein post­mo­derner Rundbau, an der anderen Eckseite, west­lich: Eine Kirche, im Stil des sozialen Wohnungs­baus, von der Ecke zurück­wei­chend auf eine tolkie­nisch gemalte Groß­haus­wand zu, und auf der anderen Stra­ßen­seite „Lebens­traum Wohn­pro­jekt“, eine Ruine, die schon zur Erneue­rung einge­rüstet ist. Über sie hinweg und an ihr vorbei sieht man auf die Hinter­häuser der Perle­berger Straße, deren Fenster am Abend erleuchtet waren, als würde dort überall Weih­nachten gefeiert.

Berlin ist jetzt viel ausge­gli­chener, nicht so streng, wie es in den 20-er Jahren mit sich war, nicht so streitig, nicht so vorlaut. Das würde Tucholsky viel­leicht denken, wenn er jetzt den Weg anträte von hier in die Straße, die seinen Namen trägt, in Mitte. Er ginge die Straße Alt-Moabit entlang, in die Inva­li­den­straße, die am Abend jetzt ein breiter Weg ins Dunkel ist, aus dem die gewalt­tä­tigen Autos hervor­kommen, hinter ihren Schein­wer­fern selbst nicht erkennbar.
Manche Himmels­lichter, die Tucholsky viel­leicht für Sterne hielte, gehören zu Kränen, die sich langsam durch die Dunkel­heit schwenken, welche den Lehrter Bahnhof umhüllen: Diese denk­wür­dige Baustelle, für die Tucholsky die beschrei­benden Worte hätte, die mir jetzt fehlen.
Ich stehe da, es ist gleich sechs Uhr am Abend, ich fühle mich alleine unter den Maschinen, sowohl unbe­hag­lich wie aufge­regt. Ich bin für Minuten Teil des Verwand­lungs-Prozesses, den Berlin durch­macht und der nicht gerade unheim­lich, aber doch undurch­schaubar ist, für unser­einen, für einen Fußgänger, der wohl auch ein geis­tiger Fußgänger ist.
Viel Neue­rung ist auf dem Weg durch die Inva­li­den­straße zu verar­beiten, ehe man durch die Torstraße bei der Tuchol­sky­straße ange­langt ist. Unter der Tuchol­sky­straße donnert der Unter­grund. Das ist die S‑Bahn. Die donnerte hier schon, als Tucholsky noch in Berlin lebte, und die Straße, passend zum Donner von unten, Artil­le­rie­straße hieß.

Ich beginne diesen Text im Café­haus von Adass Jisroel, Beth-Café, zu schreiben. Aber – wie ich in einem früheren Haupt­stadt-Spazier­gang schon geschrieben habe – mit dem Judentum will ich Tucholsky nicht in Verbin­dung bringen. Das Judentum ist hier, wie in Deutsch­land über­haupt, Relikt, da ist nichts zu machen.
Tucholsky war Heide. Ich bin auch einer. Oder wie soll ich das ausdrü­cken? Nicht mit einem aggres­siven Begriff. Tucholsky hatte sich zur Ratio­na­lität missio­niert.
Es hat nichts geholfen. Gott­glauben hilft nicht, Gott­nicht­glauben hilft auch nicht. Also: Abtreten! Nein, nein: Das hoffe ich doch, dass Tucholsky, jetzt, heute in dieser Stadt Berlin, andere Auswege wüsste als Auswege aus dem Leben. Die Servie­re­rinnen im Beth-Café haben hübsche rote Schürzen und adrette rote Fliegen, sie sind freund­lich, es ist warm, hell, licht. Kurz nach 19 Uhr, im November wie in tiefer Nacht, aber keine Nacht für Gespenster.
Das von innen freund­lich beleuch­tete Anti­qui­täten-Geschäft gegen­über sieht aus wie aus einem Advents-Kalender. Ich habe es schon in einer juris­ti­schen Lehr-Veran­stal­tung vorkommen lassen, es gehört zu mir. Ich bin zu Hause in meiner adop­tierten Heimat­lich­keit.

Es ist zu spät jetzt und für einen Fußweg ganz bestimmt zu weit, aber wenn einer nun die Tuchol­sky­straße immer gerade südwärts marschierte, dann brauchte er unten, in der Nähe der Leip­ziger Straße, nur ein Stück nach Osten und erreichte die Jeru­sa­lemer Straße.
Dort war der Sitz einer der berühm­testen Zeitungen Europas, Rudolf Mosses Berliner Tage­blatt und Handels­zei­tung, sie erschien wöchent­lich zwölf Mal, beigelegt verschie­dene illus­trierte Gratis-Zeit­schriften: der Welt­spiegel, der Moden­spiegel, die Tech­ni­sche Rund­schau, die Film­zei­tung, die Foto­zei­tung und… und der Ulk.
Mit diesen Zeitungen verulkte der deutsch-natio­nale Hugen­berg das deut­sche Volk, ulkte es zu Hitler hinüber. Aber – manche wissen es nicht mehr – von 1918 bis 1920 war Kurt Tucholsky, noch nicht 30 Jahre alt, Chef­re­dak­teur dieses Witz­blattes. Einer seiner ersten profes­sio­nellen Texte – oder war es über­haupt der erste? – steht dort. Das „Märchen: Es war einmal ein Kaiser…“ (es folgen elf Zeilen und dann:) „…er pfiff drauf“. Lesen Sie den Text doch nach, bitte.
Nachdem nun 90 Jahre darüber hinge­gangen sind, ist dieser Text längst nicht mehr so lustig wie er in seiner Wort­wit­zig­keit anfangs war, als dieser Kaiser noch gar nicht ange­fangen hatte zusam­men­schmeißen zu lassen, was nicht mehr aufzu­bauen war.

Diether Huhn: Spazier­gänge in Berlin, 1990er Jahre

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