Die Lehrter Straße ist etwas Besonderes. Sie ist so gar nicht typisch, aber irgendwie doch total Moabit. Teilweise Wohngegend, einst aber auch zwei Gefängnisse und viel Militär, dann abseits an der Mauer, heute auch Gewerbe, Sportstandort, Kultur.
Zu Mauerzeiten war sie eine ruhige Straße am Rande der Stadt West-Berlin. An beiden Enden lebten die Menschen, dazwischen war wenig los. Die Anzahl der BewohnerInnen war überschaubar, man kannte sich. Die Kiezmutter Klara Franke, die den Begriff der „billigen Prachtstraße“ prägte und 1995 in ihrem italienischen Restaurant für immer einschlief, war für viele BewohnerInnen der Straße ein Begriff. Sie engagierte sich dafür, die Straße lebenswert zu erhalten, setzte sich erfolgreich für den Kinderspielplatz ein, der heute ihren Namen trägt. Bevor der kam, organisierte Klara Franke einen alten BVG-Bus als Treffpunkt. Im Alter von 81 Jahren erhielt sie für ihr soziales Engagement sogar das Bundesverdienstkreuz. Auch mehr als 25 Jahre nach ihrem Tod ist sie und ihr Vermächtnis in der Lehrter Straße noch immer gegenwärtig.
2016 wurde im Neubauviertel „mittenmang“ eine Straße im Block nach Klara Franke benannt. In diesem Viertel jedoch werden die Spielplätze und grünen Innenhöfe durch hohe Glaswände von der Außenwelt abgeschottet. Wer dort nicht wohnt, darf sie nicht betreten, nur reinschauen. Ob dies im Sinne Klara Frankes gewesen wäre?
Ab Mitte des 19. Jahrhunderts verband die Lehrter die Krupp- und die Seydlitzstraße. Sie erschloss vor allem die damalige Garderegiments-Kaserne mit der Ulanen-Kaserne und verlief entlang des Exerzierplatzes, auf dem sich heute das Poststadion und die angeschlossenen Sportstätten befinden. Am südlichen Ende gab es eine Verbindung zum Zellengefängnis, die längst auch zur Straße gehört. Im Norden wurde die Straße später zur Perleberger Straße verlängert.
Nach dem Ersten Weltkrieg musste das preußische Militär abgerüstet werden, ein Teil der Anlagen wurde nicht mehr gebraucht. Nach dem Zweiten Krieg war vieles zerstört. Auf dem einstigen Exerzierplatz wurde der Schutt aus Moabit zusammengekarrt und dann bepflanzt. Dies ist heute der Fritz-Schloß-Park. Schon 1929 war das Poststadion entstanden, nach dem Krieg folgten verschiedene Erweiterungen.
Vorgelagert ist jedoch bereits 1901 die „Arrest-Anstalt der Berliner Garnison“ in der Lehrter Straße gebaut worden. Viel später wurde der Bau zu einem zivilen Frauengefängnis und 2013 geschlossen.
Weiter südlich steht auf der anderen Straßenseite der alte Wohnblock für die Eisenbahnangestellten. Der beeindruckende Bau besteht aus neun Gebäudeflügeln, nur ein Teil davon ist von außen zu sehen. Die Stichstraße, die an der langen Fassade entlangführt, ist ein Überbleibsel der Turmstraße, die im vorletzten Jahrhundert hier endete. Lange Zeiten vor dem Fritz-Schloß-Park und vor der Kasernenzeit.
Neben dem Eisenbahner-Wohnhaus liegt ein uralter Friedhof, daneben ein paar Kleingärten. Auch hier war ein Friedhof. Beide gehörten zum ehemaligen Zellengefängnis, dem zweiten Knast in der Straße.
Von dort schaut man auf den einladenden Eingang zum „SportPark Poststadion“, mit Kletterhalle und vielen neuen Sportangeboten. An der Seydlitzstraße stehen schicke, weiße, neue Townhouses. Hier wohnen die Neu-Moabiter, die sich eines der 30 Einfamilienhäuser leisten konnten, mit eigenem Garten und Parkplatz im Haus. Gleich dahinter das edle Spa, zwei Stunden Erholung kosten mehr als 20 Euro. Dies können sich die Nachbarn nicht leisten, die hier früher ihre Sommertage auf der Wiese des Freibads verbrachten.
Gegenüber, aber gut versteckt vor den Blicken der Wohlhabenden, kommen diejenigen zusammen, die nichts besitzen, außer ein paar Habseligkeiten, die sie mit sich führen. Die Notübernachtung der Stadtmission kann bis zu 150 Menschen ein Bett anbieten, einen warmen Raum, etwas zum Essen. Wenigstens das.
Der nördliche Teil der Lehrter Straße beginnt an der Kruppstraße. Diese führt geradewegs auf das wohl imposanteste Haus der Straße zu. 1888 als Sitz der „Berliner Granit- und Marmorwerke“ errichtet präsentierte es an der Fassade auch gleich deren gestalterische Möglichkeiten. Bis heute beeindruckt das sich über zwei Stockwerke reichende Portal, die kunstvollen Erker und Balkons, die Säulen an der Durchfahrt zum Hof, wo sich früher die Werkstätten sowie die Verbindung zum Güterbahnhof befanden.
Im Erdgeschoss liegt das italienische Restaurant, in dem Klara Franke starb. Auf der anderen Seite der „B‑Laden“, für die Betroffenen der oft ungerechten Stadtplanungspolitik. Er ist Sitz des Betroffenenrats, auch an ihm war Klara Franke beteiligt. Ihren Platz hat seit vielen Jahren eine andere Frau eingenommen: Susanne Torka ist ebenfalls eine „alte Lehrter-Straßerin“, kennt Frau, Mann und Maus, kümmert sich, organisiert und kämpft dafür, dass Moabit und die Lehrter Straße lebenswert bleiben.
Dafür steht auch die Kufa, die Kulturfabrik Moabit. 1912 als Wertheim-Haus errichtet, wurden hier Fleisch- und Backwaren verarbeitet. Später diente es als Heeresfleischerei, Keksfabrik, Heimat für Steinmetzarbeiten und zur Herstellung von Konservendosen. Seit 1991 ist die Kufa ein soziokulturelles Zentrum. Im Erdgeschoss ist das Lokal und Café das Gesicht nach außen. Das Slaughterhouse organisiert Konzerte, es gibt mit dem Filmrauschpalast ein Kino, ein weiteres im Hof, das Fabriktheater, die Selbsthilfewerkstatt, zahlreiche Veranstaltungen.
Viele Ältere kennen die Lehrter Straße eher als ruhig, bevor der neue Hauptbahnhof öffnete und die Straße als Verbindung zum Flughafen Tegel diente. Aber diese Ruhe war eher der Lage zur Mauer geschuldet. Dass hier früher mal 37 Restaurants und Kneipen existierten spricht dafür, dass es schon einmal schnellere, lautere, vollere Zeiten gab. Heute ist sie es auch wieder, nicht nur was den Autoverkehr betrifft.
Ein paar wenige Überbleibsel gibt es noch. Der alte Knast, die Kassenhäuschen am Stadion, der verwunschene Friedhof. Verschwunden sind seit einigen Jahren „Liebchens antike Bauelemente“. Mit seinem alten Lieferwagen fuhr Wolfram Liebchen zu den Baustellen der Stadt, um ausgebaute Tore, Gitter, Klinken, Fliesen, manchmal ganze Kachelöfen und andere Kostbarkeiten zu retten, aufzuarbeiten und weiterzuverkaufen. Auch dort ist heute teures Wohnen angesagt. Billig ist die Lehrter Straße nicht, auch eine Prachtstraße ist sie nicht geworden. Aber lebenswert und liebenswert, das ist sie trotzdem – noch immer.