Spaziergang durch die Turmstraße

Auch wenn das Foto aus dem Jahr 2021 einen anderen Eindruck vermit­telt: Die Turm­straße ist Moabits Haupt­schlag­ader. Und sie gehört neben Alt-Moabit zu den ältesten Straßen des Stadt­teils. Woher sie ihren Namen hat, ist genauso umstritten, wie bei Moabit selbst. Angeb­lich soll man hier vor sehr langer Zeit in beiden Rich­tungen Kirch­türme im fernen Spandau und nicht so fernen Berlin gesehen haben. Andere behaupten, es wären die Türme der Pulver­fa­brik gemeint, die unter dem Alten Fritz im Osten des heutigen Moabits ange­legt wurden und die bis zur Turm­straße reichten.
Damals war das hier noch eine fast unbe­baute Heide­land­schaft. Die Moabiter Wald­straße sowie die Heide­straße erin­nern an diese Zeit, als die Jung­fern­heide noch so nahe an die Stadt Berlin heran­reichte.
Wenn man heute die Turm­straße von Osten her betritt, befindet sich auch schon an einem histo­ri­schen Ort. Schaut man in die Straße hinein, liegt im Rücken der Fritz-Schloß-Park, die größte Grün­an­lage Moabits. Einst stand hier eine der größten Preu­ßi­schen Kasernen, zerstört im Krieg, danach aufge­schüttet mit den Trüm­mern der in Moabit zerbombten Häuser. Wer darin spazieren geht, läuft über den Schick­salen zehn­tau­sender Menschen.

Gleich am Anfang der Turm­straße erhebt sich der mäch­tige Bau des Krimi­nal­ge­richts, das größte seiner Art in ganz Europa. Der Name bezieht sich aller­dings nur auf das Gebäude, denn eine Insti­tu­tion “Krimi­nal­ge­richt” exis­tiert gar nicht. Statt­dessen sind hier die Straf­kam­mern des Land­ge­richts Berlin und des Amts­ge­richts Tier­garten unter­ge­bracht. Der 1906 eröff­nete Komplex war damals eines der modernsten Gerichte über­haupt, er besaß ein eigenes Kraft­werk, Zentral­hei­zung und eine Tele­fon­an­lage. Gene­ra­tionen von Straf­tä­tern und Opfern, Zeugen und Anwälten haben die riesige Eingangs­halle betreten, die in ihrer Monu­men­ta­lität die Unter­tanen einschüch­tern sollte.

Gleich gegen­über findet man eines der ältesten Geschäfte der Turm­straße, die Doro­theen­städ­ti­sche Buch­hand­lung. Der Inhaber Klaus-Peter Rimpel brachte schon als Jugend­li­cher die Damen in seiner Provinz-Biblio­thek an den Rand ihrer Möglich­keiten, dass er selber Buch­händler werden würde, war sein Leben lang klar. Seit 1979 steht er nun hier im Laden, nicht selten mit Pfeife im Mund. Und egal was man sucht – er hat es entweder vorrätig, bestellt es zum nächsten Tag – und hat zu fast jedem Buch etwas zu erzählen. Wie einige anderen in der Gegend hat Rimpel die Entwick­lung des Kiezes oft mitbe­stimmt, meist im sozialen Bereich.

Die östliche Hälfte der Turm­straße ist eher ruhig, außer in diesem Sommer 2022, in dem die neue Stra­ßen­bahn gebaut wird. 60 Jahre nach dem die letzte durch Moabit fuhr, 15 Linien waren es mal. Die Schienen, die jetzt die Straße zu einer baustel­len­be­dingten verkehrs­be­ru­higten Zone machen, werden bald den Haupt­bahnhof mit dem U‑Bahnhof Turm­straße verbinden. Irgend­wann danach sollen sie weiter­ge­führt werden zum Bahnhof Jung­fern­heide.

Vorläufig sorgt die Baustelle dafür, dass sich die Menschen vor den vier Cafés zwischen der Rathe­nower und Strom­straße ohne lauten Auto­ver­kehr in der Sonne ihren Cappuc­cino trinken können. So wie an der Bäckerei “Star Back”, die aber ihren Namen wech­seln musste. Warum wohl? Vier türkisch-stäm­mige Männer hocken davor, offenbar schon einige Stunden. Gleich nebenan, wo eine zwei Meter hohe Wurst die Fassade ziert, sitzen vier Frauen und trinken. Es ist Sonn­tag­nach­mit­tag­stim­mung. Daneben gab es bis vor kurzem noch ein etwas merk­wür­diges Geschäft: In der linken Hälfte des Ladens war ein Reise­büro, rechts wurden Teppiche verkauft. Ob man dort Reisen auf flie­genden Teppi­chen buchen konnte?

Links der Straße schaut der Kopf eines Gelehrten aus dem hoch­ge­wach­senen Gestrüpp heraus. Kaum lesbar stellt eine Tafel ihn als den Sagen­sammler und Schrift­steller Wilhelm Schwartz vor. Er wirkt hier etwas deplat­ziert, aber die meisten Passanten dürften die Büste mitten im Gebüsch eh nicht wahr­nehmen.

Nur wenige Meter weiter öffnet sich gegen­über der große Eingang zum ehema­ligen Kran­ken­haus Moabit, einer der vielen abge­wi­ckelten Kliniken in Berlin. Aber eines mit langer Tradi­tion. Aus den ursprüng­li­chen Seuchen­ba­ra­cken entstand eine ange­se­hene Einrich­tung, in der z.B. der Medi­ziner und Mikro­bio­loge Robert Koch expe­ri­men­tierte. Die Qualität der medi­zi­ni­schen Leis­tungen im Kran­ken­haus Moabit war so gut, dass es 1920 als einziges städ­ti­sches Kran­ken­haus Berlins zum Univer­si­täts­kli­nikum erhoben wurde. Die Nazis zerstörten diesen Ruf schlag­artig, schon im März 1933 wurden etliche jüdi­sche Ärzte und Schwes­tern entlassen, ein Teil von der SA verschleppt. Die Ärzte Robert Have­mann und Georg Gros­curth wurden zehn Jahre später verhaftet, weil sie dort Wider­stands­gruppen von Medi­zi­ne­rInnen ange­hörten. Seit der Schlie­ßung im Jahr 2001 haben sich wieder zahl­reiche medi­zi­ni­sche Einrich­tungen auf dem Gelände nieder­ge­lassen.

Während auf der linken Seite der Turm­straße der Kleine Tier­garten beginnt, der sich mehrere hundert Meter an der Straße entlang zieht und dann hinter den Vorder­häu­sern der Straße verschwindet, liegt kurz vor der Lübe­cker Straße noch ein abge­sperrter Beton­platz. Einst stand hier die erste Moabiter Feuer­wache, bei einem Luft­an­griff wurde sie zerstört, acht Feuer­wehr­leute verloren an diesem Tag ihr Leben. In den kommenden Jahren wird hier ein Neubau errichtet, in dem auf zwei Etagen die Bruno-Lösche-Biblio­thek einziehen soll. Noch befindet sie sich in der Perle­berger Straße und ist die zentrale Bücherei des Stadt­teils. Die oberen Etagen bekommt aber die Staats­an­walt­schaft, im Neben­haus kann man heute schon durch die großen Scheiben in die Regale voller Akten schauen.

An der Ecke zur Lübe­cker Straße sucht der Haus­ei­gen­tümer mit großen Plakaten nach Gewer­be­mie­tern. Bis vor einigen Jahren befand sich dort das Postamt 21, das aber in die Straße Alt-Moabit gezogen ist. Gleich daneben steht das ehema­lige Fern­sprechamt 2. Die “Froll­eins vom Amt” saßen hinter riesigen Fens­tern in der oberen Etage. Eine Beson­der­heit war die Einrich­tung eines öffent­li­chen Fern­seh­saals 1936, in dem die Über­tra­gungen von den Olym­pi­schen Spielen gezeigt wurden.

An der Ecke zur Strom­straße schlägt das eigent­liche Herz Moabits. Die eins­tige Taxi­halte Turm/​Strom wurde im Funk meist “Schrumm/​schrumm” genannt, weil hier auf beiden Haupt­straßen der Verkehr in alle Rich­tung vorbei rauschte. Auch das ist hier im Moment kaum möglich, die Bauar­beiten zur Stra­ßen­bahn zwingen Auto­fahrer, aber auch die vielen Fußgän­ge­rInnen zu teils weiten Umwegen. Dabei ist hier die Mitte der Turm­straße, der U‑Bahnhof spuckt ständig neue Menschen an die Ober­fläche, norma­ler­weise halten hier auch die Busse mehrerer Linien.

Die Heilands­kirche mit dem höchsten Kirch­turm der Stadt auf der linken und das Rathaus Tier­garten auf der rechten Stra­ßen­seite bestimmen danach das Bild. Seit 1935 steht das Rathaus auf dem ehema­ligen Armi­ni­us­platz, die dazu­ge­hö­rige Markt­halle hat den Bomben­krieg über­lebt und verliert sich jetzt hinter dem Rathaus. Der Rathaus­vor­platz, einst als Park­platz ange­legt, wurde nach Mathilde Jacob benannt, Sekre­tärin und Freundin von Rosa Luxem­burg. Am Rande die rote Tele­fon­zelle erin­nert daran, dass die Turm­straße mal zum briti­schen Sektor gehörte, in einer auch schon lange zurück liegenden Zeit.

Hier beginnt der west­liche Teil der Turm­straße und der ist um einiges voller, als der östliche. Die Turm­straße war hier schon zur vorletzten Jahr­hun­dert­wende eine Einkaufs­straße. Es gab mal mehrere Kauf­häuser, heute kein einziges mehr. Aus dem eins­tigen Hertie an der Wilhelms­ha­vener Straße wurde ein Mixbau mit Handel, Fitness­center und teuren Wohnungen. An der Ecke zur Emdener Straße erin­nert nichts mehr an das kleine Kauf­haus und auch Wool­worth ist längst verschwunden.
Ein schönes, großes Wohn­haus an der Otto­straße beher­bergte bis in die 1970er Jahre hinein eine Karstadt-Filiale. Vor Karstadt hieß das Kauf­haus Karzentra und war in jüdi­schem Eigentum. Mehr als 60 jüdi­sche Gewer­be­be­triebe gab es allein in der Turm­straße, die meisten davon Geschäfte und Hand­werks­be­triebe. Sie alle wurden von den Nazis zerstört oder mussten zwangs­weise verkauft werden. Oder sie wurden “liqui­diert” – so wie auch viele ihrer ursprüng­li­chen Besitzer. Es ist der Moabiter Verein Sie waren Nach­barn, der heute an das eins­tige jüdi­sche Leben in diesem Stadt­teil erin­nert, unter anderem jeden November und Dezember im großen Schau­kasten vor dem Rathaus.

Die vielen Geschäfte mit Mode, Vorhängen, Möbeln oder Kurz­waren sind einer anderen Art von Läden gewi­chen. Heute wird die Turm­straße bestimmt von zahl­rei­chen Imbissen, Bäcke­reien, Friseur­läden und Geschäften mit billigen Haus­halts­waren oder Klei­dung. Und sie ist immer voll, selbst abends und an den Sonn­tagen, auch wenn hier kaum jemand einen Schau­fens­ter­bummel machen wird. Manche aber bleiben an den Fens­tern des Brüder-Grimm-Hauses stehen, dessen Galerie von außen besich­tigt werden kann. Das ehema­lige Schul­ge­bäude versteht sich als Zentrum für Bildung und Kultur für die Menschen im Kiez.

Oder vor dem “Licht­haus Moabit”, einem der wenigen alten Geschäfte in der Straße. Mindes­tens seit den 1960er Jahren ziehen hier die Lampen die Blicke der Passanten auf sich.
Doch die meisten Geschäfte haben keinen eigenen Charme mehr, das ist etwas, was sicher nicht nur in der Turm­straße verloren gegangen ist. Trotzdem aber lohnt sich ein Spazier­gang durch die Straße, durch ihre Geschichte und ihre sehr unter­schied­li­chen Abschnitte.


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