Die unbesungenen Helden von Moabit

Wie würdest Du Dich verhalten? Wenn Du weißt, dass die Regie­rung einen großen Teil der Bevöl­ke­rung verfolgt, entrechtet, wahr­schein­lich sogar ermordet. Und wenn dann plötz­lich jemand von ihnen an Deine Tür klopft, mit der Bitte um Hilfe. Wenn Du Angst hast, dass es jemand bemerkt, ein Nach­barn oder ein zu aufmerk­samer Block­wart, und dass er Dich verrät. Du riskierst alles. Du hast Angst, dass man Dich abholt, verhört, in ein Konzen­tra­ti­ons­lager bringt und Du nie wieder zurück kommst. Also, wie würdest Du Dich verhalten? Würdest Du die Tür öffnen oder schnell wieder schließen?
Ich bin froh, diese Entschei­dung nicht treffen zu müssen. Auch wenn ich natür­lich zu denen gehöre, die zuerst sagen: “Natür­lich würde ich helfen.” Aber wer von uns kennt schon die Angst, die einen dann befällt, und weiß, wie man dann tatsäch­lich reagiert.

Aber es gab sie, dieje­nigen, die den Verfolgten halfen. Auch wenn es nur wenige Tausend waren, in einer Stadt mit damals 4,3 Millionen Einwoh­nern. Man nennt sie die “unbe­sun­genen Helden”, denn die meisten von ihnen sind längst vergessen, nichts erin­nert an sie. Aber sie haben bewiesen, dass es geht. Dass es nicht nur die mitlau­fenden Massen gab, die lieber weg schauten. In der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Propa­ganda galten sie als “Nest­be­schmutzer und Volks­ver­räter” – und im Denken vieler Bürger waren sie das auch noch Jahr­zehnte nach dem Ende der Nazi­herr­schaft.
Natür­lich gab es genug Gründe, die Tür zu schließen. Das Risiko war groß, das man einging. Außerdem  hatten viele Menschen kaum genug zum Essen für sich selber, die Lebens­mit­tel­karten zwangen zur spar­samen Eintei­lung. Und als der Krieg nach Deutsch­land zurück kam, wurden viele Menschen ausge­bombt und man musste zusam­men­rü­cken und andere bei sich aufnehmen. Es gibt immer Gründe, sich vor der Hilfe zu drücken. Aber trotzdem haben es viele getan, weil sie wussten, dass es ansonsten den Tod der Verfolgten bedeu­tete.

Ehepaar Zenk

So wie Helene und Leopold Zenk im Haus Alt-Moabit 21–22, Ecke Wils­na­cker Straße. In ihrer dama­ligen Flei­scherei an der Ecke befindet sich heute ein Döner-Imbiss. Die beiden lebten in der Wohnung darüber. Dort versteckten sie einige Wochen lang das Ehepaar Weiss­mann.
Morris Weiss­mann war einst Geschäfts­führer eines Waren­hauses Tietz (Hertie) in Thüringen. Als er das Geschäft kaufte, wurde seine Frau Char­lotte Mitin­ha­berin. Von 1910 bis 1934 führten sie den Laden, dann mussten sie dem Druck weichen, so dass sie 1936 nach Berlin kamen, in die Melan­chthon­straße 18.
Am 27. Februar 1943 versuchte die Gestapo, das Ehepaar zu verhaften. Durch einen zweiten Ausgang konnten beide fliehen, doch von nun an mussten sie sich verste­cken. Für einige Monate nahm sie der Drogist Richard Purps aus der Melan­chthonstr. 8 bei sich auf, danach Gertrud Lewan­dowski im Hansa­viertel. Ihr Ehemann, der Kaba­ret­tist Hugo Lewan­dowski, war im selben Jahr im KZ Maut­hausen getötet worden. Als  ihr Haus am 22. November 1943 durch einen Flie­ger­an­griff zerstört wurde, mussten die Weiss­manns wieder fliehen. Am selben Tag war auch das Wohn­haus ihres Helfers Purps zerstört worden. Auf der Suche nach einem Versteck wurde Morris Weiss­mann in der Calvin­straße erkannt, eine Menschen­menge jagte ihn durch die Straßen, bis er in der Thoma­si­us­straße gestellt wurde. Sie prügelten mit Fäusten und Knüp­peln auf ihn ein. Weiss­mann wurde in die Poli­zei­wa­chen Kirch­straße, dann Paulstr. 17 und schließ­lich in die Stephanstr. 16 gebracht. Über mehrere Stationen landete er in der Sammel­stelle in der Großen Hamburger Straße.
Während­dessen war Char­lotte Weiss­mann auf der Suche nach ihrem Mann an das Flei­scher-Ehepaar Zenk geraten. Sie verstän­digten sich darauf, dass sie bei ihnen unter­kommen könnte.
Morris Weiss­mann gelang die Flucht aus dem Sammel­lager, wie er an die Flei­scher Zenk kam, ist unbe­kannt. Jeden­falls wurde auch er aufge­nommen und konnte sich einige Wochen mit seiner Ehefrau dort verste­cken. In dieser Zeit wurden sie auch von Marga­rete Schil­ling aus der Melan­chthonstr. 14 und Helene Scholz aus der Thoma­si­usstr. 19 unter­stützt. Bald darauf gelang es ihnen, sich nach Rangsdorf durch­zu­schlagen und sich dort bis zum Ende der Diktatur zu verste­cken. Später erfuhren sie, dass ihre gesamte Familie von den Nazis ausge­rottet worden war, auch ihre beiden Söhne, die in Ausch­witz und There­si­en­stadt ermordet worden sind.
Nach der Befreiung zog das Ehepaar Weiss­mann wieder nach Moabit, in die Bochumer Straße 17. Morris Weiss­mann wurde Geschäfts­führer von Karstadt.

Das Ehepaar Zenk hatte als Flei­scher eine zentrale Bedeu­tung im Kiez. Und sie kannten dadurch viele Menschen. Mehr­mals versteckten sie verfolgte Juden in ihrer Wohnung, für einige Wochen oder sogar Monate. Genau wie ihre Bekannte, Alwine Weiß aus der Kirch­straße 9. Sie versteckte den Schau­pieler Alfred Berliner-Baltoff, der nur durch ihre Hilfe über­lebte.
Auch ein Foto­graf Böhm sowie ein Herr Marcuse wurden vom Ehepaar Zenk versteckt. Die Über­le­benden Sieg­fried Baruch und Malchen Samuel schickten 1945 Dankes­briefe an die Zenks.
Einige Tage nach der Befreiung, als die ersten Verge­wal­ti­gungen durch russi­sche Soldaten bekannt wurde, versteckte Helene Zenk auch fünf oder sechs Frauen vor denen.

Hilde Born­emann

Ob das Ehepaar Zenk wohl geahnt hat, dass in ihrem Haus noch jemand Juden versteckt? Neben der Flei­scherei betrieb das “Fräu­lein Born­emann” eine Musi­ka­li­en­hand­lung. Gegen­über im Haus Alt-Moabit 111 befand sich das Konser­va­to­rium Max und Paul Heller, wo die Klavier­leh­rerin Elsa Tschechner arbei­tete. Sie war eine Freundin von Käte Bermann. Als deren Eltern 1942 ins KZ There­si­en­stadt depor­tiert worden waren, musste Käte unter­tau­chen. Mehrere Monate lang konnte sie sich in der Musi­ka­li­en­hand­lung von Hilde Born­emann verste­cken. Auch sie über­lebte durch diese Hilfe.

Emdener Straße 54

Eine beson­dere Geschichte ist die der Familie Wein­berg. Sie versteckte sich nämlich in der eigenen Wohnung. Die Witwe Channa und ihre zwei Töchter Amelie und Doro lebten bereits seit 1920 im 3. Stock der Emdener Straße 54, der Vater war früh gestorben. Wenige hundert Meter weiter betrieb sie in der Wald­straße 1 einen Lebens­mit­tel­laden, ihre jüngere Tochter ging noch zur Schule. Während der Pogrom­nacht wurde das Geschäft geplün­dert und zerstört. Am 26. Februar 1943 erfuhr Channa Wein­berg, dass es eine große Verhaf­tungs­ak­tion geben sollte. Sie vertraute sich der Nach­barin Paula Luede­ritz an, die von da an die Straße und das Trep­pen­haus beob­ach­tete. Tatsäch­lich kam die Gestapo einige Tage später. Frau Luede­ritz konnte die Familie jedoch durch ein verab­re­detes Klopf­zei­chen warnen und so öffneten sie nicht die Tür. Auch bei einem zweiten “Besuch” konnte die Familie auf diese Weise gewarnt werden.
Da sie nun keine Einnahmen mehr hatten, verkauften sie einiges, was noch zu versetzen war. Gleich­zeitig waren sie auf Unter­stüt­zung ange­wiesen. Der Haus­be­sitzer E. Pude­will soll ihnen die Miete erlassen haben, die Nach­barn Paula Luede­ritz und Grete Grzeda aus der Emdener Str. 52 gaben ihnen Lebens­mit­tel­karten. Auch die Inhaber der Bäckerei Bartsch sowie der Drogerie Wola­szewski im Neben­haus unter­stützten die Familie.

Channa Wein­berg und ihre Töchter nahmen aber eben­falls immer wieder Verfolgte bei sich auf, teil­weise nur zum Waschen, manche auch über längere Zeit. Diese Hilfs­be­reit­schaft wurde ihnen jedoch am 23. Oktober 1943 zum Verhängnis. Ein jüdi­scher Verräter, der für die Gestapo arbei­tete, versuchte die Familie an diesem Tag zu verhaften. Die Mutter konnte beide Töchter unter einem Vorwand aus der Wohnung schi­cken, eine Vier­tel­stunde später gelang auch ihr selber die Flucht: Sie hatte die Siche­rungen heraus geschraubt, ist raus­ge­rannt und konnte die Wohnungsür von außen abschließen.
Alle drei flüch­teten zu Grete Grzeda, die nur zwei Häuser weiter wohnte. Die Mutter zweier Kinder war selber sehr arm, hatte sie aber auch vorher schon unter­stützt. Jedoch konnte nur Channa Wein­berg dort bleiben. Dora kam in einem Laden in der Salz­we­deler Straße 7 unter. Amalie war erst in einer Wohnung in der Lübe­cker Straße 28, dann an wech­selnden Adressen in Berlin und der Umge­bung, um die Befreiung schließ­lich eben­falls in der Salz­we­deler Straße zu erleben.
Channa, Amalie und Dora Wein­berg über­lebten den Faschismus, weil sich in ihrer Umge­bung immer wieder Menschen fanden, die sie selbstlos unter­stützten. In ihrem eigenen Wohn­haus konnten sie unter­tau­chen, obwohl wahr­schein­lich die meisten Nach­barn davon wussten. Verraten wurden sie von außen.

Rund 700 Namen von Helfe­rinnen und Helfern sind bekannt, davon eben auch ein Teil hier aus Moabit. Die meisten Wohnungen, soweit die Gebäude noch exis­tieren, sind längst vergessen. Man weiß dort nicht, was vor genau 70 Jahren in den Räumen an Tragö­dien, aber auch an Helden­taten geschehen sind. Kleine Helden­taten, die Menschen das Leben gerettet haben.

Einige weitere Adressen in Moabit sind:
Alt-Moabit 54 (Ilonka und Hans­heinz König)
Bandelstr. 32 (Bern­hard Lehmann)
Beus­selstr. 36
Beus­selstr. 38 (Drogerie Willi Bomhardt)
Beus­selstr. 43 (Ottilie Pohl)
Beus­selstr. 65 (Liese­lotte Hanisch)
Birkenstr. 50
Bundes­rat­ufer 10
Dort­munder Str. 3 (Ruth Pich­linski)
Drey­sestr. 10
Essener Str. 23 (Julius und Sophie Fleisch­mann)
Gotz­kow­skystr. 12 (Gertrud Lewan­dowski)
Kaiserin-Augusta-Allee 6 (Milch­ge­schäft Alfred Steinig)
Levet­zow­straße (Frau Gold)
Lübe­cker Str. 3 (Friedel und Max Knitter)
Putlitzstr. 17 (Susanne Witte)
Quit­zowstr. 36 oder 136 (Anna Mate­rnik)
Solinger Str. 1
Solinger Str. 7
Solinger Str. 11
Stend­aler Str. 19 (Martha Engel)
Turmstr. 66 (Elisa­beth Pusch)
Waldstr. 56
Waldstr. 6 (Helene von Schell)
Wils­na­cker Str. 42 (Marga­rete-Vera Lüde­mann)
Wullen­we­berstr. 3 (Bern­hard Heymann)

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