Das Sozialistische Zentrum in der Stephanstraße

Zustand ca. 1997

In den 1970er Jahren war der Stadt­teil Moabit ein Zentrum der linken und links­ra­di­kalen Szene West-Berlins. Die Indus­trie­kom­plexe im Westen wurden durch maois­ti­sche Gewerk­schafter poli­tisch bear­beitet (bis heute!), am Otto­platz begannen am 1. Mai kommu­nis­ti­sche Demons­tra­tionen und in der Stephan­straße befand sich das Sozia­lis­ti­sche Zentrum. Bekannt wurde die ehema­lige Filz­fa­brik im Hof der Nummer 60 als vorüber­ge­hende Behau­sung der Kommune 1, die hier Anfang August 1968 einzog. Bei einer Poli­zei­razzia in der K1 wurden 1969 Spreng- und Brand­sätze mit elek­tri­schen Zeit­zün­dern gefunden, bei denen es den Verdacht gab, dass die Poli­ti­sche Polizei sie gleich mitge­bracht hatte. Im selben Jahr bekamen die Frauen der Kommune Besuch von Jimi Hendrix, der vorher ein Konzert im Sport­pa­last gegeben hatte. Ende 1969 löste sich die Kommune 1 wieder auf.

Nach der Spaß­gue­rilla kam 1970 die Außer­par­la­men­ta­ri­sche Oppo­si­tion in die Filz­fa­brik. Hier entstand das Sozia­lis­ti­sche Zentrum, Sitz verschie­dener kommu­nis­ti­scher Orga­ni­sa­tionen und Zeitungen. Darunter die PL/PI (Prole­ta­ri­sche Linke / Partei­initia­tive) und andere maois­ti­sche Betriebs­gruppen. Sie produ­zierten in der Stephan­straße die Zeitung „Klas­sen­kampf“, die in den West-Berliner Indus­trie­be­trieben wie Siemens, AEG, Osram, SEL oder Daimler-Benz verteilt wurde.

Die KPD als damals stärkste Kraft der kommu­nis­ti­schen Linken grün­dete in der Stephan­straße ihre erste „Stra­ßen­zelle“ über­haupt, die ab 1973 mit der „Kommu­nis­ti­schen Presse“ eben­falls eine eigene Zeitung heraus­brachte. Es gab den Viet­na­maus­schuss Stephan­straße, die MLHPol (Marxis­tisch-Leni­nis­ti­sche Hoch­schul­gruppe Poli­to­logie) sowie Gruppen der KPD/ML. Schräg gegen­über, im Kino Stephan-Licht­spiele, zeigten verschie­dene Maoisten-Parteien Filme und hielten Versamm­lungen ab.

In der Stephan­straße 60 saß auch die Rote Hilfe West­ber­lins, die sich um poli­ti­sche und soziale Gefan­gene kümmerte und die größte Gruppe dieser Art in der Bundes­re­pu­blik war. Daneben wurde hier die Zeit­schrift FIZZ produ­ziert, die sich als Sprach­rohr der aufblü­henden anti­au­to­ri­tären Neuen Linken sah. Sie propa­gierte den mili­tanten Unter­grund und zielte dabei auf die Orga­ni­sie­rung der prole­ta­ri­schen Jugend ab. Neun der zehn erschie­nenen FIZZ-Ausgaben wurden beschlag­nahmt, weil sie auch die Grün­dung einer bewaff­neten Stadt­gue­rilla propa­gierte. Die 10. Ausgabe soll nur deshalb nicht verboten worden sein, weil der zustän­dige Beamte gerade im Urlaub war. Anders als die anderen Gruppen gehörten die Mache­rInnen der FIZZ nicht zum stali­nis­ti­schen oder maois­ti­schen kommu­nis­ti­schen Spek­trum, sondern waren als „Hasch­re­bellen“ eher anar­chis­tisch. Ebenso wie dieje­nigen, die im glei­chen Haus die Nach­fol­ge­zeit­schrift „Hundert Blumen“ heraus­gaben und auch nur auf zehn Nummern plus ein paar Sonder­aus­gaben kamen.

Aber auch die Kommu­nisten machten in der Stephan­straße nicht nur Partei­po­litik. Für die Rent­ne­rInnen im Stadt­teil wurden rote Kaffee­kränz­chen orga­ni­siert und im Erdge­schoss des Hauses gab es einen Kinder­laden.

Doch nach ein paar Jahren war wieder Schluss. Mitte der 1970er Jahre waren die Parteien und verschie­denen Initia­tiven zerstritten oder hatten sich aufge­löst. Danach wech­selten Eigen­tümer und Mieter des Hauses mehr­mals. Es sollte zwischen­durch sogar als privates Flücht­lings­heim ausge­baut werden, was aber vom Bezirksamt verhin­dert wurde. 1997 ist es von einer Gruppe neuer Leute mit viel Eigen­in­itia­tive wieder­be­lebt worden. Im Erdge­schoss entstand eine Ninjutsu Dojo Kampf­sport­schule, im 1. Stock eine Studenten-WG, die die Ölhei­zung mit einfa­chen Mitteln wieder instand setzten. In die 2. Etage baute ein Physiker seine tech­ni­sche Werk­statt ein und im Dach wirkte der Künstler Markus Beer. Doch auch dieses Nutzungs­kon­zept zerfiel wieder. Der stark sanie­rungs­be­dürf­tige Bau wurde schließ­lich durch ein Mieter­paar über­nommen. Sie sanierten das Gebäude, bauten den im Krieg wegge­bombten Teil des Hauses wieder auf und fanden dabei alte Papiere aus der Zeit der Kommune. Heute betreiben sie unter anderem eine Ferien-Wohn­etage. An das Sozia­lis­ti­sche Zentrum erin­nern nur doch die großen, hellen Räume.

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