Stolpersteinverlegungen und Film

Am Montag, den 3. September, gab es in Moabit an drei Orten Stol­per­stein­ver­le­gungen.

Turm­straße 53

Die erste Verle­gung erin­nerte an Walter Lewin und seine Kinder Ingolf und Jutta, die am 27.11.1941 nach Riga depor­tiert und drei Tage später in der Nähe erschossen wurden. An der Verle­gung, der von uns orga­ni­siert worden war, nahmen ca. 25 Menschen teil. Neben Nach­barn und Bekannten waren auch Mitglieder der Familie Gidron, Verwandte von Walter Lewin, anwe­send. Benjamin Gidron hielt eine Rede, die wir hier doku­men­tieren.
Gunter Demnig, der die Stol­per­steine verlegte, wurde von einem nieder­län­di­schen Fern­seh­team begleitet, das eine Repor­tage über ihn macht. Sie inter­viewten auch Mitglieder unserer Initia­tive.

Walter Lewin wurde 1902 geboren. Er war Dentist und lebte mit seinen beiden Kindern in der Turm­straße 53. Seine Eltern und fast alle seine Geschwister wohnten mit ihren Fami­lien eben­falls in Moabit. In der Zwing­li­straße 15, der elter­li­chen Wohnung, trafen sie sich an Wochen­enden und Feier­tagen. Wir wissen wenig über ihr Leben in den zwan­ziger und drei­ßiger Jahren.
Am 27. November 1941, also kurz nach Beginn der syste­ma­ti­schen Depor­ta­tionen aus Berlin wurden Walter und seine Kinder, die acht und sechs Jahre alt waren, nach Riga depor­tiert und am 30. November im Wald von Rumbula erschossen.

Agri­co­la­straße 33a

Danach folgte um 9.15 Uhr eine Stol­per­stein­ver­le­gung vor der Agri­co­lastr. 33a für das Ehepaar Marga­rete und Max Ehrlich. Beide wurden am 12.1.1943 in das KZ There­si­en­stadt depor­tiert und kurz danach nach Ausch­witz. Dort sind beide ermordet worden. Vor dem Haus versam­melten sich etwa 20 Personen. In einer kurzen Gedenk­feier wurde ihre Biografie verlesen, umrahmt von Cello­musik. Diese Verle­gung wurde von einem Mitglied unserer Initia­tive orga­ni­siert.

Das Ehepaar Ehrlich lebte knapp vier­zehn Jahre in dem Haus. Die beiden wurden 1888 bzw. 1889 im heutigen Polen geboren. Am 28.11.1911 heira­teten sie und wohnten zunächst in Kauls­dorf. Max wurde Bücher­re­visor. Welchen Beruf Marga­rete hatte, ist nicht bekannt. Die Ehe blieb kinderlos. Die beiden zogen am 15.07.1928 in die Agri­co­lastr. 33a, wo bis zu ihrem erzwun­genen Umzug am 13.03.1942 in die Levet­zowstr. 13 lebten. Die Wohnung in der Levet­zow­straße war ein soge­nanntes „Juden­haus“. Damit wurde zu Lasten der Juden Wohn­raum für die soge­nannte deutsch­blü­tige Bevöl­ke­rung frei­ge­macht. Das Ehepaar Ehrlich musste nun, so wie die anderen Bewohner des Ghet­to­hauses, sehr beengt leben. Sie hatten nur noch ein Zimmer und konnten die Küche mitbe­nutzen. Am 09.01.1943 mussten sie sich in das Sammel­lager in der Gerlachstr. 21 begeben, das zuvor ein jüdi­sches Alters­heim war. Mit dem 79. Trans­port wurden sie am 12.01.1943 in das Konzen­tra­ti­ons­lager There­si­en­stadt und elf Tage später in das Vernich­tungs­lager Ausch­witz depor­tiert. Dort wurden sie ermordet. Marga­rete und Max Ehrlich wurden 54 und 55 Jahre alt.

Dort­munder Straße 2

Bei Bauar­beiten in der Dort­munder Straße ist schon vor längerer Zeit ein Stol­per­stein verschwunden. Dieser wurde heute ersetzt.

“Bei den Jekkes ist es schwie­riger”

Am Nach­mittag wurde n der Kultur­fa­brik Moabit der Film „Bei den Jekkes ist es schwie­riger“ vorge­führt. Prof. Benjamin Gidron aus Israel, der Groß­neffe von Walter Lewin, hat jahre­lang die Geschichte seiner Familie recher­chiert und ist 2013 mit seiner Frau und seinen erwach­senen Kindern nach Frankfurt/​Main und Berlin zu den Wurzeln und der Lebens­welt seiner Vorfahren gereist. Sein Sohn Yuval, der Filme­ma­cher ist, hat diese Reise mit der Kamera begleitet. Beide waren bei der Film­vor­füh­rung anwe­send und beant­wor­teten danach zahl­reiche Fragen.
Mehr Infor­ma­tionen zum Film

Benjamin Gidrons Rede anläss­lich der Stol­per­stein­ver­le­gung für Walter Lewin und seine Kinder Ingolf und Jutta

Wir haben uns heute hier versam­melt – fast 77 Jahre nachdem Walter Lewin und seine beiden Kinder Ingolf (8 Jahre alt) und Jutta (6 Jahre alt) zum letzten Mal ihre Wohnung in der Turm­straße 53 verlassen haben und in das Wald­ge­biet Rumbula bei Riga in Lett­land verschleppt und in dem sie erschossen wurden. Nach der Aussage eines Nach­barn geschah dies gegen halb elf in der Nacht. Sie wurden von zwei SS-Leuten abge­holt. Walter hatte nur einen Ruck­sack auf dem Rücken.

Walter Lewin war Dentist. Er begann, wie das damals üblich war, seine Berufs­lauf­bahn bei dem erfah­renen und ausge­wie­senen Dentisten Baum­gartner, der seine Klinik in der Holz­markt­straße hatte. Als Walter seine Lehr­zeit beendet hatte, eröff­nete er eine eigene Zahn­praxis in der Turm­straße 28, wo er auch seine Wohnung hatte. Im Mai 1933 behan­delte er meinen Groß­vater Sally Gott­feld wegen seines gebro­chenen Kiefers, den er bei der Folter im Keller in der Pape­straße durch die SA davon­ge­tragen hatte. 1938 musste Walter wegen der anti­jü­di­schen Gesetze seine Praxis aufgeben und zog in die Turm­straße 53.

Walter war mit Henri­ette Heide­mann, genannt Henny, verhei­ratet. Das Paar hatte zwei Kinder – Ingolf und Jutta. Die Eltern ließen sich aber scheiden und die Kinder lebten bei ihrem Vater, mit dem sie auch depor­tiert wurden. Henny wurde etwa ein Jahr später depor­tiert.

Dass wir – mein Sohn und ich – heute hier sind zeigt, dass wir nicht nach­lassen in unserem Enga­ge­ment, an jedes einzelne Fami­li­en­mit­glied zu erin­nern, an jene, die ermordet wurden und an jene, die von den Nazis gezwungen wurden, Berlin zu verlassen.

Wir hätten dieses Projekt nicht ohne die enorme Hilfe durch Sie alle, insbe­son­dere aber vom Verein „Sie waren Nach­barn“ in Angriff nehmen können. Während meine Fami­li­en­an­ge­hö­rigen und die Eltern und Groß­el­tern der Vereins­mit­glieder in der Vergan­gen­heit höchst­wahr­schein­lich Nach­barn waren, vermit­teln uns zwei oder drei Gene­ra­tionen später die Vereins­mit­glieder das Gefühl, dass wir tatsäch­lich heute ihre Nach­barn sind.

Ich nutze die Gele­gen­heit, jedem einzelnen und allen Mitglie­dern des Vereins „Sie waren Nach­barn“ für ihr fort­ge­setztes Enga­ge­ment für die Erin­ne­rung an die früheren Bewohner von Moabit und Ihnen allen für Ihre heutige Teil­nahme an unserer Feier zu Ehren der Familie Lewin zu danken, die hier in der Turm­straße 53 gewohnt hat.

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